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Rembetika
Songs Of The Greek Underground 1925 - 1947

Als hochrangige Äquivalenz zu Trikonts "Flashback"-Serie vom vorigen Jahr und der erst vor kurzem erschienenen Anthologie über die Unterhaltungsmusik populärer jüdischer Entertainer aus Berlin, Hamburg, München und Wien der Jahre 1903 bis 1936 zwingt auch die jüngste Großtat des Münchner Labels hinsichtlich völlig verkannter oder unbekannt gebliebener, vergessener Ethnologien des letzten Jahrhunderts zu größter Aufmerksamkeit - erst mal eines etwaigen historischen Werts wegen. Und verwandelt sich - die Bereitschaft zum Eintauchen in fremde Dimensionen allgemein vorausgesetzt - in höchstes Erstaunen, wie hier anhand akribisch zusammengetragenen Materials eine Musikkultur repräsentiert wird, die man bislang nur vom Hörensagen kannte oder sich in modernistischer, gar verfälschter Variante als Ausdruck traditionalistischer Prägung des Landes präsentierte, das gemeinhin als touristisches Ziel in unseren Köpfen existiert: Griechenland.
Dabei liegen die Wurzeln jedweder folkloristischer Gestaltung (einschließlich der Sirtaki-Tänze) dieser jahrzehntelang gebeutelten Nation weit zurück - bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, wo sich der klassische Rembetiko-Stil in der Unterwelt, in Gefängniszellen und illegalen Haschischkneipen (Tekes) manifestierte: Kleine, einfache Lieder, gesungen von einfachen Leuten, von Entrechteten, Geknechteten, dem griechischen Subproletariat. Bis in die 50er Jahre erlebte der Rembetiko in mehreren Perioden eine geradezu ungeheure Blütezeit mit Tausenden von Liedern, eine Einheit von Musik, Tanz und Text, deren thematische Bandbreite ausgehend von frühen Underground-Verhaltenscodes über "ungesetzlichen" Haschischkonsum und den Leiden des nachteilig behandelten, gejagten Menschen ("Rembetis") durch die Verschmelzung einiger mit den Kleinasienflüchtlingen ab 1922 gelandeten großen Musikern aus Konstantinopel und Smirnow eine künstlerische Reife erlangte, die in unterschiedlichen Betrachtungen über Liebe, Frauen, Trauer, Gesellschaftskritik, Auswanderung und Arbeitsleben in den Tavernen und auf den Bühnen von Piräus und all den anderen Orten die Sozialisation des gesamten Landes unverhohlen klarsichtig oder in satirisch überspitzter Schärfe widerspiegelt.
Rembetika-Lieder sind also bei weitem nicht nur mit der Argiles (Wasserpfeife) angerichtete Pamphlete und Lamentationen von einige bekifften, zugedröhnten Rembetis, Mangas oder Kutsavakis (obwohl die Beispiele mit diesen Inhalten auf der mit 55 Liedern randvoll angehäuften Doppel-CD letztendlich zu den Eindrucksvollsten gehören), sondern vielmehr echtes Singer/Songwritertum von einigen begnadeten, inzwischen allesamt verstorbenen Sängern und Sängerinnen, die als Sprachrohr der niederen Kaste, des einfachen Volkes dienen - vergleichbar etwa dem Ursprung des Blues von New Orleans als Aufschrei und Kennzeichnung einer von Schmerz zerfurchten Seele. Seit 1930, etwa mit der Gründung erster Aufnahmestudios und Schallplattenfirmen in Griechenland, sind zahlreiche Rembetiko-Songs auf Platte erschienen, etliche davon wurden Hits, andere direkt von den Machthabern (Metaxa-Diktatur) zensiert oder verboten; viele Rembetiko-Künstler waren äußerst produktiv und erfolgreich (u.a. auch im Ausland, vor allem in den USA), andere resignierten bereits ob der allenthalben schwierigen, desolaten Situation nach wenigen Veröffentlichungen - ein reichhaltiger Fundus ist so mit der Zeit entstanden, aus dem der griechische Plattenhändler, DJ und Diplom-Physiker Christos Davidopoulos eine Auswahl traf, die hier in ziemlich adäquater Tonqualität zu hören ist. Aufnahmen, deren Einzigartigkeit darin bestehen, dass sie die komplette Rembetiko-Welt in all ihren Nuancen und Schattierungen spürbar nachvollziehen lässt mit jener unvergleichlichen Melodik, die sich aus Elementen osteuropäischer Tradition und vorderasiatischer Harmonielehre zusammensetzt und anhand ihrer Instrumentierung um den Hauptklangkörper, die Busuki, herum (Lauto, Baglamas, Tsurnis, Sanduri, Flöte, Oud, Banjo, Tamburin, Mandoline, Gitarre, Violine alla turca) bisweilen Kapriolen von ungeahnter Schönheit schlägt.
Und schließlich die Intensität des Gesangs, die schwärmerische und klagende Emphasis in den Stimmen, die Leid, Freude, Ausweglosigkeit, Glücklichsein vermitteln und beim Hörer Illusionen von Stolz, Heldenmut und Größe verursachen. Ein wichtiges Zeugnis aus den Anfangstagen populärer Kultur - berauschend und stark. Musik für die Ewigkeit.

Joachim Ody

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last updated: 09.01.2002 | top
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