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Kirche,
Pop und Welt - ein DJ hat historische Fundstücke zusammengetragen
Gern wüsste man, was
die Passanten empfanden, als sie des Reverends Louis Overstreet ansichtig
wurden. Das Foto zeigt einen Mann in schwarzer Robe, die Elektrische um
den Hals gehängt, wie er auf offenem Bürgersteig missioniert. Ein Streetfighter
Gottes, tief drunten im amerikanischen Süden der Sechziger.
Schallplatten sind in der Hinsicht das auskunftsfreudigere Medium. Der
Reverend ruft, der Reverend schreit und windet sich. Mit rudimentären
Schlägen auf der Gitarre attackiert er die Gemeinde, die ihm in mehrstimmigen
Spontanchören antwortet. Wieder und wieder dasselbe Schema, bis endlich
das Schlagzeug einsetzt und die Spannung sich in einem gospelseligen Finale
entlädt. So geschehen irgendeines schönen Tages in Phoenix, Arizona, wo
der - inzwischen verstorbene - Louis Overstreet zusammen mit seinen vier
Söhnen in der St. Luke's Powerhouse Church of God in Christ zu Gast war.
Nichts aber ruht für immer im Zeitalter der Archive. Jonathan Fischer,
Musikjournalist und DJ aus München, hat den Helden afroamerikanischer
Fundamentalkirchlichkeit ein spätes Denkmal gesetzt. Overcome heißt seine
zweiteilige bei Trikont erschienene Anthologie mit mehr oder minder vergessenen
Ensembles namens Sensational Harmonizers oder Crownseekers, obskuren Menschenfischern
wie den Modulations und anderen Funk-Soul-Brothers und -Sisters. Unglaublich
seltsame Musik, die jedoch nicht ausgegraben wurde, weil auch dies einmal
ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt sein wollte. Fischer versteht sich
als Grundlagenforscher und Spurenleser, er will die Wurzeln aktuellen
Pops in den Bretterbudenkirchen der Südstaaten dokumentieren, wo jeden
Sonntag Pfingsten ist, aber auch auf das untergründige Weiterwirken von
Rhetorik und Ekstasetechniken hinaus - bis hin zum Bum, bum, bum heutiger
Churches of Fun.
Eine Pioniertat. Seltsam unbeackert ist dieses Terrain immer noch, obwohl
Musiker seit jeher über einen besonderen Draht zu Gott verfügen und das
Religiöse an allen erdenklichen Fronten des Sozialen irrlichtert. Für
die Sechziger liegt der Zusammenhang von Kirche, Pop und Welt noch am
ehesten auf der Hand. Die Karrieren der bekanntesten Soulstars, von Aretha
Franklin bis Al Green, begannen in Gotteshäusern, fast alle haben sie
neben ihrem Engagement in den Hitparaden immer wieder Alben mit Kirchenliedern
gemacht, gar mancher ist am Ende ganz zurückgekehrt. Die Gospelrhetorik
beeinflusste aber auch die politische Sprache, die Reden Martin Luther
Kings und anderer schwarzer Leader, sickerte in die breite Protestkultur
ein. We shall overcome, die bekannteste Hymne der Bürgerrechtsbewegung,
ist säkularisierte Bibel: der Hoffnungsgesang eines auserwählten Volkes
auf dem Weg aus der Fremdherrschaft. Noch wichtiger als das Was der Botschaft
aber ist das Wie.
Dass dem Gospel etwas Unchristliches, Orgiastisches innewohnt - wir haben
es uns, ehrlich gesagt, gedacht; welcher Kirchenmann aber erreicht dabei
die Intensität eines Reverends Cleophus Robinson? Der Papst, anno 2000
mit einer Sakropop-CD herausgekommen, jedenfalls nicht! Robinson stöhnt
und klagt in Ornamenten und Melismen, er schwingt sich zu Wendungen auf,
die ganz genau um die Sünden zu wissen scheinen, von denen abzulassen
er aufruft. Dabei liegt die eigentliche Botschaft im Jenseits der Worte:
im Vortrag selbst. "Moan" wurde der Stil genannt, den Robinson mitbildete.
Noch aus dem Abstand von zwei Jahrzehnten begreift, wer ihm zuhört, warum
overcome überwinden, aber auch überwältigen heißt.
Historisch lässt sich der Rhythmus des Heiligen auf das Stampfen der Sklaven
auf den Plantagen zurückführen, die so ihre eigene Christianisierung begleiteten.
Aber was soll das für eine Christianisierung sein, die so viel Ekstase
zulässt und inkorporiert - als eine Art inneres Afrika? Im Groove macht
sich die schwarze Tradition die weiße mehr zu Eigen als umgekehrt: Ein'
feste Burg ist unser Rhythmus! Für die Siebziger, in denen der politische
Impuls sich allmählich verliert, bezeugt Fischers Kompilation eine Intensivierung
der Discoeinflüsse im Sakralen. Die Titel werden länger und länger, die
rhythm sections wachsen an. Besonders im zweiten Teil, Sanctified Soul
und Holy House betitelt, häufen sich die funky Missionsversuche und groovenden
Erweckungen. Die Rance Allen Group, deren stimmmächtiger Kopf schon neben
Isaac Hayes auf der Bühne stand, reklamiert aufgrund ihrer Einheizerqualitäten
die hot line to Jesus für sich.
Ist das nicht ziemlich nah dran an den Kanzelpredigten heutiger Glückstechniker?
"Wenn du in der Kirche sprichst, sind bereits alle bekehrt - die Botschaft
muss hinausgehen auf die Straßen und in die Clubs", soll der große Rance
Allen einmal gesagt haben, lange bevor in weißen mittelständischen Vergnügungshäusern
und Theatern Gott als DJ gesichtet wurde. Und ist nicht eine ganze Reihe
früher Discos in umgebauten Kirchen installiert worden? Vielleicht hat
die Bibel doch Recht. Vor der Idee der Erlösung sind Kirchentag und Großrave
gleich.
(Die Zeit - 10/2001 - Thomas Groß)
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